Islam und Freimaurerei: Rudolf von Sebottendorf (III)

Teil I · Teil II

Die Thule-Gesellschaft führt im kollektiven Gedächtnis eine kuriose Doppelexistenz. Zum einen gibt es die historische Thule-Gesellschaft, die als völkische Geheimorganisation nur wenige Jahre bestand und kaum je einen über München hinausgehenden Einfluss hatte, aber eine zentrale Rolle beim Sturz der bayerischen Räterepublik spielte. Zum anderen gibt es die imaginäre Thule-Gesellschaft, die zum Spekulationsobjekt der „Nazi-Mysterien“ wurde. Diesen zufolge war die Thule-Gesellschaft eine Vereinigung sinistrer Magier, die Adolf Hitler zum völkischen Führer aufbauten und im Dritten Reich die Fäden zogen. Nach der deutschen Niederlage hätten sie sich wieder in den Untergrund zurückgezogen, um neue Pläne zu spinnen. Auf diese letztere Weise ist die Thule-Gesellschaft in die Popkultur eingegangen, wo sie z.B. von einem meiner Lieblings-Superhelden, Hellboy, bekämpft wird.

Aber wie kamen die Völkischen überhaupt darauf, sich im Gründen von geheimen Logen zu versuchen? Ich schrieb bereits, dass ein treibendes Moment der in völkischen Kreisen verbreitete Glaube an antimasonische Verschwörungstheorien darstellte. Der Erste Weltkrieg brachte in Deutschland das Stichwort von der „Entente-Freimaurerei“ auf. Man stellte sich die Triple Entente als gesteuert von Freimaurern vor, die darauf gierten, das Deutsche Reich zu vernichten. Der Glaube an maurerische Komplotte hatte (wie in Teil I beschrieben) eine spezifisch antisemitische Konnotation, denn den Völkischen galt die Freimaurerei als ein Instrument des „Weltjudentums“. Doch läge man falsch, würde man bei der Annahme stehenbleiben, das Verhältnis der völkischen Bewegung zur Freimaurereu sei von schlichter Ablehnung geprägt gewesen. Tatsächlich mischte sich die Feindseligkeit mit einem erheblichen Maß an Faszination. Die unheimliche Macht, die die Völkischen in ihren antimasonischen Fantasien den Logenbrüdern zusprachen, hätten sie letztlich gern selbst gehabt.

Will man die Geschichte des völkischen Logenwesens ergründen, muss man sich zunächst mit Leben und Werk des österreichischen Schriftstellers Guido von List (1848–1917) befassen. Der war wie Sebottendorf ein selbsternannter Adeliger. Er hieß eigentlich Guido List und stammte aus einer Wiener Kaufmannsfamilie – das aristokratische tönende „von“ hatte er seinem Namen selbst hinzugefügt. Ebenfalls wie Sebottendorf rebellierte List gegen seine Eltern. Auf Wunsch des Vaters ließ er sich zum Kaufmann ausbilden. Seine eigentliche Begeisterung galt jedoch der Landschaft und Geschichte Österreichs. List unternahm lange, einsame Wanderungen und Bootsfahrten. 1874 trat er einer Freimaurerloge bei, was für seine brav katholischen Eltern ein Affront gewesen sein muss. Als sein Vater 1877 starb, zog List sich unverzüglich aus dem Kaufmannsgewerbe zurück, um sich als Schriftsteller zu etablieren. In den Jahrzehnten darauf erschienen seine in germanischer Zeit spielenden Romane Carnuntum (1888), Jung Diethers Heimkehr (1894) und Pipara (1895), die im völkischen Milieu begeistert aufgenommen wurden. Ihr durchgängiges Thema ist der Konflikt zwischen germanischer Identität und katholischem Christentum, der nach Lists Auffassung die gesamte österreichische Geschichte durchzog.

Schon als Jugendlicher soll List in der Krypta des Stephansdoms geschworen haben, er werde dereinst einen Wotanstempel errichten. Das mag spätere Legendenbildung sein, aber List war es durchaus ernst mit der Restauration des germanischen Heidentums – wie er es sich vorstellte: List postulierte eine gemeingermanische Religion, die er Wuotanismus nannte. 1898 veröffentlichte er mit Der Unbesiegbare eine Art Katechismus seiner erfundenen Religion. Als eigentlicher Kultstifter betätigte er sich jedoch erst, nachdem er 1902 vorübergehend erblindete. Diese Erfahrung löste bei List eine spirituelle Krise aus. Er begann, sich mit Runenkunde zu befassen, und entwickelte eine höchst eigenwillige Methode zur Untersuchung der „arischen Ursprache“. List zerlegte germanische Wörter in ihre Silben, denen er anschließend mit Hilfe falscher etymologischer Ableitungen eine je eigene Bedeutung beilegte. Den Namen der Edda (um nur ein Beispiel zu nennen) erklärte er allen Ernstes als „eh da“, also: das seit jeher Dagewesene.

Wie nicht anders zu erwarten, ignorierte die herkömmliche Wissenschaft List und seine Theorien vollständig. Das völkische Publikum zeigte sich dagegen hellauf begeistert. 1908 wurde die Guido-von-List-Gesellschaft ins Leben gerufen, der zahlreiche finanzstarke Persönlichkeiten aus Österreich und dem Deutschen Reich angehörten. Die Gesellschaft ermöglichte es List, eine ganze Reihe von Schriften zu publizieren, in denen er seine Auffassungen vom alten Germanentum von allen Seiten darlegen konnte. Im Mittelpunkt stand dabei Lists Idee von einer germanischen Priesterkaste, die er als „Armanenschaft“ bezeichnete. Diese wiederum entspringt Lists Interpretation der Germania des Tacitus. Der römische Schriftsteller hatte die germanischen Stämme in drei Großgruppen unterteilt, die sich nach ihren Siedlungsgebieten unterschieden: „die dem Ozean Nächsten [hießen] Ingävonen, die in der Mitte Herminonen, die übrigen Istävonen“ (Germania 2,2).

Die Herminonen, deren Namen List in Armanen abwandelte, seien kein Stämmeverband gewesen, sondern eine Kaste, die in priesterlicher und richterlicher Funktion über sämtliche germanischen Stämme geherrscht habe. Im Zuge der römischen Eroberung habe die armanische Herrschaft ein gewaltsames Ende genommen, die armanische Weisheit habe jedoch im Volk weitergelebt. Erst das Christentum habe versucht, die armanische Überlieferung konsequent auszurotten, was aber nur teilweise gelungen sei. Damit hatte List eine Vorstellung ins Leben gerufen, die noch heute in der neonazistischen Szene der Bundesrepublik herumgeistert.

Die Armanen waren List zufolge in drei Einweihungsgrade gegliedert. Damit wird deutlich, dass der Freimaurer List in seiner Darstellung der Armanen von der Struktur einer Maurerloge mit ihren drei Graden (Lehrling, Geselle und Meister) beeinflusst war. Lists anhaltende positive Bezugnahme auf die Freimaurerei sorgte gelegentlich für Irritationen im völkischen Milieu, zeigt aber deutlich, dass sich in diesen Kreisen Antimasonismus und Faszination für das maurerische Logenwesen miteinander verbanden. In der Tat stellte List eine (pseudo-)historische Genealogie auf, durch die er die Armanenschaft direkt mit der modernen Freimaurerei verband.

List zufolge war die Christianisierung der germanischen Stämme ein unerbittlicher Kampf der Kirche gegen das armanische Wissen (oder „Weistum“, wie man in völkischen Kreisen gern sagte). Die Kirche habe jedoch keinen vollständigen Sieg errungen. Die armanische Überlieferung hätte weitergelebt in den Ritterorden und Bauhütten des Mittelalters. Im 16. Jahrhundert sei es zu einem volkstümlichen Wiederaufleben der Armanenschaft gekommen, worauf die Kirche mit den Hexenverfolgungen reagiert habe. Vom 17. Jahrhundert an habe die überlebende Armanenschaft sich mit den Freimaurerlogen eine neue Konstitution gegeben. Als Logenbruder sah List sich mithin als veritabler Erbe altgermanischer Priesterkönige.

Im Lauf der Jahrtausende sei natürlich viel altes Wissen verloren gegangen, erklärte List. Oftmals verstünden die Logenbrüder ihre eigenen Symbole nicht mehr. Dank seiner Rekonstruktion der „Ursprache“ und seiner Runenkenntnisse könnte die armanische Überlieferung von ihm, List, aber erneut entziffert werden. Zudem schrieb List sich die Fähigkeit des „Erberinnerns“ zu: Manche reinblütigen arischen Menschen hätten die Fähigkeit, an Orten von historischer Signifikanz die Ereignisse der Vergangenheit durch visionäre Einsicht nachzuerleben. Solche Orte waren für List vor allem Felsformationen und Burgruinen im ländlichen Österreich, die er gern zu Monumenten der germanischen Frühgeschichte erklärte.

Wie man sieht, verfügte List über eine außerordentliche Phantasie. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es List mit seiner exzentrischen Theorie der österreichischen Geschichte todernst war. Er sah sich im Kampf gegen finstere Mächte, die auch noch die letzten Reste armanischer Überlieferung zerstören wollten. Zu diesen Mächten zählte er neben der katholischen Kirche auch das Judentum. In seinen letzten Lebensjahren wurde List tatsächlich zum Seher: Er kündigte den Ausbruch eines großen Krieges ein, aus dem heraus ein germanischer Führer erstehen werde. Was List sich wünschte, bekam er auch – allerdings anders, als er es erwartet hatte. Der Erste Weltkrieg brachte Hitler hervor, der viel zu praktisch veranlagt war, um sich sonderlich viel mit Phantastereien wie Runen, Ursprachen und Armanen abzugeben. Hitlers hämische Worte über die „deutschvölkischen Wanderscholaren“ mit ihren Rauschebärten, die „von grauer Vorzeit“ schwärmen, aber „vor jedem kommunistischen Gummiknüppel“ fliehen (Mein Kampf), sind direkt auf List gemünzt, der schon rein äußerlich dieser Beschreibung entsprach.

In der Tat ging dem eigenbrötlerischen List jegliches Organisationstalent ab. Die Guido-von-List-Gesellschaft hatten seine Anhänger*innen für ihn ins Leben gerufen. Nachdem er seine Vorstellungen von der Armanenschaft in zahlreichen Büchern dargelegt hatte, versuchte List 1911, die imaginäre Priesterkaste direkt neu zu etablieren, indem er den Hohen Armanen-Orden (HAO) gründete. Der kam aber nie über eine Handvoll Mitglieder hinaus und zerfiel bald darauf wieder. Lists Beliebtheit, die weit ins Deutsche Reich hineinreichte, tat das aber keinen Abbruch. Was List nicht zustande brachte, übernahmen seine Anhänger*innen für ihn.

1911/12 fand eine deutsche Gruppe von List-Anhänger*innen, es sei an der Zeit, des Meisters Vision von einem elitären germanischen Orden Wirklichkeit werden zu lassen. Im Unterschied zu List waren sie jedoch klar antimasonisch orientiert. Ihr Plan war, „germanische Logen“ zu gründen, die den Kampf gegen die jüdische kontrollierte Freimaurerei aufnehmen sollten. Hermann Pohl ergriff die Initiative, indem er 1911 in Magdeburg eine Wotanloge etablierte. Im Jahr darauf wurde als reichsweiter Dachverband der Germanenorden gegründet, wobei der einflussreiche antisemitische Verleger Theodor Fritsch (1852–1934) als Schirmherr fungierte. Pohl wurde zum Ordenskanzler ernannt. Daneben gab es das Amt eines „Sippenwahrers“, der auf die rein arische Herkunft der Mitglieder achten sollte. Logen entstanden vor allem in Nord- und Ostdeutschland in schneller Zahl. 1913 hatte der Orden nach eigenen Angaben schon 451 Mitglieder.

Nach diesem rasanten Aufstieg geriet der Orden allerdings in eine Krise. Der Ausbruch des Weltkriegs brachte es mit sich, dass zahlreiche Mitglieder an die Front geschickt wurden, wodurch viele der rasch gegründeten Logen wieder zerfielen. Hinzu kamen interne Streiteren, die zur Absetzung des Ordenskanzlers Pohl führten. Der räumte seinen Posten aber nicht, bevor er die offiziellen Stempel und Papiere des Ordens an sich gebracht hatte. Er gründete einen Abspaltung, den Germanenorden Walvater, dem er weiterhin als Kanzler vorsaß (während er den ursprünglichen Orden für illegitim erklärte). Pohl war es, auf dessen Annonce Sebottendorf 1916 in Bad Aibling stieß, und dessen Abspaltung er beitrat.

In Süddeutschland hatte sich der Orden auch vor dem Krieg nicht recht etablieren können. Pohl verfügte jedoch über eine umfangreiche Liste mit Adressen von Personen in Bayern, die an einer völkischen Ordensgründung interessiert sein könnten. Diese Liste übergab Pohl an Sebottendorf, versehen mit dem Auftrag, die „Ordensprovinz Bayern“ neu aufzubauen. Die Begegnung zwischen Pohl und Sebottendorf stellt einen Wendepunkt dar. Hätten die beiden sich nicht getroffen, wäre der Germanenorden an seinen inneren Konflikten wahrscheinlich ebenso schnell zugrunde gegangen, wie er entstanden war. Mit Sebottendorf traf Pohl jedoch auf einen begabten Organisator (und begnadeten Selbstdarsteller), der sich unverzüglich an die Arbeit machte.

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