Islam und Freimaurerei: Rudolf von Sebottendorf

Hitler floh 1945 nach Südamerika. Die Nazis verfügten über UFO-artige Wunderwaffen. Hitler war der Avatar einer indischen Gottheit. In Neuschwabenland unterhalten reichsdeutsche Truppen bis heute eine geheime Basis. Die Nazis haben in Tibet einen Eingang ins hohle Erdinnere entdeckt. Der Esoterikforscher Nicholas Goodrick-Clarke hat eine Bezeichnung für solche und ähnliche Sagen geprägt: Er spricht von den „Nazi-Mysterien“. Nach dem Ende des Naziregimes gab es offenbar ein großes Bedürfnis, Aufstieg und Untergang des Großdeutschen Reiches mit allerlei verborgenen Machenschaften zu erklären. Die weitaus beliebteste Verschwörungstheorie in diesem Zusammenhang beruht auf der Vorstellung, die Nazis und ihr Weltkrieg seien aus dem Untergrund heraus von diversen Geheimgesellschaften gesteuert worden. Sie geht zurück auf eine Publikation zweier französischer Journalisten.

1959 erschien Le Matin des magiciens erstmals in Frankreich. Im Verlauf der sechziger Jahre entwickelte das Buch sich zum Bestseller. 1962 kam die deutsche Übersetzung mit dem Titel Aufbruch ins dritte Jahrtausend. 1968 wurde in den USA eine Taschenbuchausgabe, The Morning of the Magicians, veröffentlicht. Seine beiden Verfasser, Jacques Bergier und Louis Pauwels, konnten für sich durchaus einen gewissen Expertenstatus in Anspruch nehmen. Bergier hatte für die Résistance spioniert, und Pauwels war nach dem Krieg Chefredakteur des Résistance-Blattes Combat gewesen. Was die beiden verband, war aber vor allem ihr Interesse an Esoterik, Ufologie und Verschwörungstheorien. 1961 gründeten sie gemeinsam die esoterische Zeitschrift Planète.

In ihrem Buch behaupten Bergier und Pauwels, Hitler sei von einem magischen Geheimbund, der Thule-Gesellschaft, mit Hilfe übernatürlicher Mittel zum Führer Deutschlands aufgebaut worden. Bis zuletzt habe Hitler unter der magischen Kontrolle der Thule gestanden. Die Existenz von Geheimgesellschaften, so die beiden Autoren, offenbare einen flüchtigen Einblick in eine untergründige „Welt des Bösen“, die aus dem Verborgenen heraus die Geschicke der Menschheit bestimme. Im Dritten Reich sei diese „Welt des Bösen“ für einen historischen Augenblick lang an die Öffentlichkeit getreten. Das Ende der Naziherrschaft sei aber nicht das Ende dieser klandestinen Welt gewesen, die sich lediglich wieder in den Untergrund zurückgezogen habe – schlafend, aber nicht tot, wie ein Monster aus den Geschichten H. P. Lovecrafts.

Die Deutschen wollten gegenüber dieser französischen Verschwörungstheorie nicht zurückstehen. Sie griffen sie geradezu dankbar auf. Wenn die wahre Macht im Dritten Reich in den Händen einer Geheimgesellschaft lag, dann waren die Deutschen als Kollektiv ja gewissermaßen Opfer von klandestinen Machenschaften. Man kann sich vorstellen, dass dies für einige eine wesentlich befriedigendere Erklärung darstellte als die simple Einsicht, dass die große Mehrheit der Deutschen (Mit-)Täter*innen gewesen waren. 1964 erschien Dietrich Bronders Buch Bevor Hitler kam, in dem der Autor die Behauptungen Bergiers und Pauwels’ wiederholte und ergänzte, die Thule-Gesellschaft habe Kontakte zu tibetischen Lamas unterhalten.

Was von Bergier und Pauwel als ominöse Warnung formuliert worden war, geriet schließlich in den Händen einiger Autor*innen aus dem rechtsradikal-esoterischen Milieu zu einer Verharmlosung des Nationalsozialismus. 1994 erschien ein ausschweifend-voluminöses Werk namens Das schwarze Reich, dessen Autor, der sich hinter dem Pseudonym E. R. Carmin verbarg, tatsächlich Ralph Tegtmeier ist, zugleich Verleger des Buchs. Tegtmeier behauptete, nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern sämtliche Konflikte der Moderne seien das Werk von Geheimgesellschaften. Letztlich gingen diese zurück auf eine Spaltung innerhalb des „Weltjudentums“. Zwei jüdische Bankiersdynastien hätten um die Weltherrschaft gekämpft. Eine der beiden habe den Antisemismus erfunden, um die andere zu vernichten. Das Judentum ist selbst für den Antisemitismus verantwortlich: Eine Ansicht, die Nazis schon immer vertreten haben.

Von der Verharmlosung zur Verherrlichung. Was Tegtmeier auf reichlich unübersichtliche Weise darlegte, wurde von einem weiteren Verschwörungstheoretiker für den Massenkonsum aufbereitet: Jan Udo Holey alias Jan van Helsing. Sein Buch Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert erschien im gleichen Jahr wie Tegtmeiers Werk, entwickelte sich im Unterschied zu dessen Wälzer aber zum Bestseller. Es war simpel geschrieben, reicherte die „Nazi-Mysterien“ mit Versatzstücken aus zahlreichen weiteren Verschwörungstheorien an (u.a. kommen Außerirdische ins Spiel) und presste Tegtmeiers gewundene Ausführungen in ein klares Gut-Böse-Schema: Die Thule-Gesellschaft und die Nazis hätten eigentlich nur das Wohl der Menschheit vor Augen gehabt, indem sie gegen die jüdische Weltverschwörung angekämpft hätten. Leider sei Hitler größenwahnsinnig geworden und habe den legitimen Abwehrkampf gegen die Mächte der Finsternis in einen Eroberungskrieg verwandelt. Die Thule-Gesellschaft habe Hitlers Irrweg aber unbeschadet überstanden und stehe bereit, die Menschheit erneut vor dem Verderben zu retten.

Als Beweis für die jüdische Weltverschwörung präsentierte Holey übrigens die Protokolle der Weisen von Zion. Und als Werkzeug zur Umsetzung des in den Protokollen niedergelegten Plans diene die Freimaurerei. Damit aktualisiert Holey eine sehr alte Verschwörungstheorie. Bereits 1797/98 erschien mit Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme das vierbändige Werk des französischen Jesuiten Augustin Barruel, das als Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus auch in Deutschland verlegt wurde. Der königs- und kirchentreue Barruel behauptet darin, die Französische Revolution sei auf einen Umsturzplan der Aufklärungsphilosophen zurückzuführen. Hinter den Philosophen aber stünden die Freimaurer, und hinter diesen wiederum die Illuminaten, die die ganze Zeit die Fäden gezogen hätten. Barruels Werk fand im 19. Jahrhundert zahlreiche begeisterte Leser*innen. 1878 veröffentlichte die antisemitische Zeitschrift Le Contemporain einen Brief, der angeblich von einem Zeitgenossen Barruels verfasst worden sei, einem italienischen Offizier namens Giovanni Battista Simonini: Barruel habe recht, aber er habe auch einen wesentlichen Aspekt übersehen; das nämlich hinter den Illuminaten das Judentum stehe. Ob Simonini wirklich existierte oder eine Erfindung von Le Contemporain ist, ist unklar. Wesentlich ist aber die durch das unter seinem Namen erschienene Schriftstück hergestellte Assoziation zwischen Freimaurerei und Judentum. Seitdem sind zahlreiche Verschwörungstheorien entstanden, in denen die Freimaurerei (oder, als eine Erscheinungsform der Maurerei, die Illuminaten) als „Synagoge des Satans“ dargestellt wird, als die Organisationsform der jüdischen Weltverschwörung. Wie gesagt: In dieser Hinsicht präsentiert ein Holey nichts neues, sondern greift lediglich eine ältere Verschwörungstheorie auf.

Die reale Thule-Gesellschaft, die von 1918 bis 1925 existierte, ist damit nicht nur Ausgangspunkt von Verschwörungstheorien, sondern in gewissem Sinn auch ihr Ergebnis. Vor dem Ersten Weltkrieg schoben völkische Kreise in Deutschland die Schuld an der Kriegsstimmung zwischen den Großmächten nämlich den Freimaurern zu. Und folgerichtig entwickelten sie die Idee, den Machenschaften der einen Geheimgesellschaft, der Maurerei, müsse eine andere Geheimgesellschaft entgegengesetzt werden, ein geheimer Orden, der die arisch-deutschen Interessen gegen das jüdische Logenwesen verteidige. 1912 war es so weit, und der Germanenorden wurde gegründet. Aus diesem entstand zum Kriegsende hin die Thule-Gesellschaft.

Um darzustellen, was das alles nun mit dem Islam zu tun hat, wende ich mich der Person zu, die der Motor dieser Entwicklung war: der angebliche Freimaurer und Bektaschi-Sufi Rudolf von Sebottendorf.

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