Islam und Freimaurerei: Rudolf von Sebottendorf (II)

Teil I

Rudolf von Sebottendorf wurde 1875 als Sohn eines Eisenbahners in Hoyerswerda geboren. Sein richtiger Name war Rudolf Glauer. Daran zeigt sich schon, dass seine familiäre Herkunft nichts mit dem adelig tönenden Pseudonym gemein hatte, unter dem er später auftrat. Der junge Glauer begann (wohl auf Wunsch der Eltern) ein Ingenieursstudium, dass er aber abbrach, um zur See zu fahren, was er ab 1898 auch tat. Sein weiterer Weg führte ihn nach eigenen Angaben zunächst nach Australien und Ägypten.

Was dann passierte, ist nicht leicht zu rekonstruieren. Die detaillierteste Quelle für Glauers Leben vor dem Ersten Weltkrieg ist sein autobiographischer Roman Der Talisman des Rosenkreuzers, den er 1925 veröffentlichte. Darin stellt er sich als Sprössling einer uralten rosenkreuzerischen Familie dar, die geheimes Einweihungswissen hüte. Da er aber von monistischen Ideen (à la Ernst Haeckel) angesteckt worden sei, habe er die esoterischen Ideen seines Vaters verlacht und sei vom rechten Weg abgekommen. Die Schuld am Abbruch seiner akademischen Ausbildung gibt er einer jungen Frau, die ihn heimtückisch um sein fürs Studium angelegtes Geld betrogen habe. Glauer strickt in dem Roman also eifrig an seiner eigenen Legende, die vor allem seine bescheidene Herkunft verschleiern sollte. Dennoch lässt sich nicht alles in Der Talisman des Rosenkreuzers einfach als Erfindung betrachten. So lässt sich die Geschichte von der jungen Geliebten, die mit seinem Geld durchgebrannt sei, als Eingeständnis der Tatsache lesen, dass Glauer später selbst als Heiratsschwindler auftrat (hier verschoben auf eine möglicherweise fiktive Person).

Zwischen 1901 und 1913 hielt Glauer sich im Osmanischen Reich auf. Zwischenzeitlich muss er jedoch nach Deutschland zurückgekehrt sein, denn 1905 ging er dort eine Ehe mit Klara Voss ein, die schon 1907 wieder geschieden wurde. 1908 musste er sich vor einem Berliner Gericht wegen Betrugs verantworten. Jedenfalls aber wurde Glauer osmanischer Staatsbürger und kämpfte als Soldat im Zweiten Balkankrieg von 1913. Die osmanische Staatsbürgerschaft bewahrte ihn bei seiner Rückkehr nach Deutschland davor, auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs geschickt zu werden.

Was aber tat Glauer nach eigenen Angaben im Osmanischen Reich? Zu Beginn seines Aufenthalts sei er in Bursa in die Dienste der griechisch-jüdischen Familie Termudi getreten, die in Bankgeschäften und im Seidenhandel tätig gewesen sei. Das Familienoberhaupt, von Glauer stets „der alte Termudi“ genannt, habe sich aus dem Familiengeschäft zurückgezogen, um sich seiner umfangreichen esoterischen Bibliothek zu widmen, die er auch dem jungen Glauer zugänglich gemacht habe. Außerdem habe Termudi ihn in eine Freimaurerloge eingeführt. Das ist also der nächste Kapitel der stilisierten Lebensgeschichte: Nach den monistischen Verirrungen kehrt Glauer auf den Pfad esoterischer Weisheit zurück.

Es ist schwer zu sagen, was an der Geschichte mit Termudi und der Loge in Bursa dran ist. Wurde Glauer jemals regulär in die Freimaurerei eingeführt? Nicholas Goodrick-Clarke geht in seinem Standardwerk The Occult Roots of Nazism davon aus, dass die Loge tatsächlich existierte und dem jungtürkischen Komitee für Einheit und Fortschritt nahestand. Ich weiß allerdings nicht, womit sich eine Nähe Glauers zur jungtürkischen Bewegung belegen ließe. In einem späteren Buch, Bevor Hitler kam von 1933, behauptet Glauer, die Jungtürken seien Dönme (zum Islam übergetretene Kryptojuden) gewesen, die im Rahmen einer jüdischen Verschwörung das Osmanische Reich zu Fall gebracht hätten. Allerdings ist auch dieses spätere Buch stark stilisiert, denn Glauer versucht sich darin als Gründervater des Nationalsozialismus darzustellen. Es mag sein, dass Glauer vor dem Weltkrieg mit jungtürkischen Ideen sympathierte, nur um sie später zu denunzieren.

Über die oben erwähnten Ereignisse der Jahre 1905–08 schweigt Glauer sich verständlicherweise aus. Im Anschluss an diese Zeit befindet er sich jedenfalls wieder im Osmanischen Reich, wo er 1910 in Konstantinopel eine eigene Loge gegründet haben will. 1911 sei er eingebürgert worden, habe kurz darauf die Bekanntschaft eines Barons Heinrich von Sebottendorf gemacht und sei von diesem adoptiert wurden. Das ist wohl der wichtigste Einschnitt in Glauers fiktiver Lebensgeschichte, denn er machte den verkrachten Eisenbahnersohn zum Baron Sebottendorf.

Vor Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte Sebottendorf ins Deutsche Reich zurück. Das Meldeamt nahm ihm die Geschichte mit der Adoption nicht ab. Sebottendorf verteidigte sich mit dem Argument, die Adoption sei nach osmanischem Recht erfolgt. Es gelang ihm auch, die tatsächliche Adelsfamilie Sebottendorf um den Finger zu wickeln, die ihn als einen der Ihren akzeptierte und damit bewerkstelligte, dass Sebottendorf fortan als Baron auftreten konnte. (Offiziell wurde die Adoption damit aber auch nicht. Für eine Aufnahme in den Adel hätte es die Zustimmung des Kaisers gebraucht.) Kriegsdienst musste er, wie erwähnt, als osmanischer Bürger nicht leisten.

1915 heiratete Sebottendorf Berta Anna Iffland, die geschiedene Tochter eines reichen Berliner Kaufmanns. Fortan verfügte er über ein nahezu unbegrenztes Vermögen. Der Anwalt der Familie Iffland verdächtigte Sebottendorf, ein Heiratsschwindler zu sein, und wahrscheinlich zu recht: trat Sebottendorf später in der Öffentlichkeit auf, dann stets in Begleitung seiner Schwester Dora Kunze und seiner Geliebten Käthe Bierbaumer, aber nie in Begleitung seiner Frau. Bei Dresden ließ Sebottendorf sich von seinem neu erworbenen Reichtum zunächst eine prachtvolle Elbvilla errichten. Max Alsberg, der Familienanwalt, versuchte die Dresdner Polizei auf Sebottendorfs Spur zu setzen, hatte damit aber keinen Erfolg. Jedoch kursierten in der Folge ausreichend Gerüchte im Dresdner Nobelmilieu, so dass Sebottendorf sich veranlasst sei, sein neues Anwesen fluchtartig zu verlassen. Heute befindet sich auf dem Grundstück in der Meußlitzer Straße 41 ein ökologischer Kindergarten.

1916 ließ Sebottendorf sich mit seiner Gattin im bayerischen Kurort Bad Aibling nieder. Dort kam er erstmals mit der völkischen Bewegung in Kontakt, was schließlich zur Gründung der Thule-Gesellschaft in München führte. Von 1917 bis 1919 betätigte Sebottendorf sich hauptsächlich als völkischer Aktivist. Was aber prädestinierte ausgerechnet den Schwindler und Weltenbummler zu einer solchen Karriere?

Es ist aufschlussreich, wie genau Sebottendorf auf völkische Ideen aufmerksam wurde: Er beauftragte einen Münchner Anwalt, Georg Gaubatz, die Polizei zur Herausgabe von Akten zu bewegen, in denen es um den Nachweis seiner osmanischen Staatsbürgerschaft ging. Bei einem Treffen mit Gaubatz zeigte ihm dieser eine Zeitungsannonce des Germanenordens, die blauäugige und blondhaarige Männer aufforderte, dem Orden beizutreten. Sebottendorf zeigte sich fasziniert von drei Runenzeichen, die unter dem Anzeigentext standen, und trat dem Orden unverzüglich bei.

Dass Sebottendorf sich für geheimnisvolle Zeichen begeisterte, geht direkt aus seiner Religionstheorie hervor. In seiner osmanischen Zeit hatte Sebottendorf sich für die Sufi-Orden interessiert, besonders für die Bektaşis. (Welche direkten Erfahrungen er mit den Tariqas gemacht hatte, ist angesichts der zahlreichen Gerüchte und Halbwahrheiten, die Sebottendorf selbst streute, natürlich schwer zu sagen.) Gemäß seiner eigenwilligen Interpretation stellen die Sufi-Gemeinschaften die „türkische Freimaurerei“ dar. Das muss näher beleuchtet werden. Sebottendorf zufolge haben alle Religionen einen unverwechselbaren Kern:
Der Islam hat etwas, das ihm ausschließlich eigen ist, das man seine Seele nennen kann, das ist dies: sowie jemand das Bekenntnis ausgesprochen hat und Muselman geworden ist, gehört er der allgemeinen Bruderschaft des Islams an; dieses allgemeine Gefühl der Brüderlichkeit ist bei hoch und niedrig gleich lebendig. Die Demokratie des türkischen Staates ist das Zeugnis hiervon. Die Bruderschaft ist nicht nur eine Idee, sondern wie wird im Islam praktisch ausgeübt, während sie im Christentum nur ein schöner Gedanke ist. Man hat oft auf das Gemeinsame zwischen Judentum und Islam hingewiesen, tatsächlich steht der Islam höher. Jahwe, der Gott der Juden, ist ein reiner Stammesgott geblieben, während Allah der Muselmanen alle Rassen [sic] mit gleicher Liebe umfasst, die sich zum Islam bekennen. In der Moschee betet der Neger [sic] neben dem Perser, dem Araber, dem Türken; Jahwe ist aber nur seinem Volke Israel gnädig.
So heißt es in Sebottendorfs Schrift Orientalische Magie (o.J.). Unverkennbar schrieb Sebottendorf diese Zeilen nach seiner völkischen Zeit, denn die Rede von der „Demokratie des türkischen Staates“ macht Sinn nur nach der Gründung der türkischen Republik 1923. Angesichts der Tatsache, dass Sebottendorf noch wenige Jahre zuvor als völkischer Organisator aufgetreten war, ist dieses Bekenntnis zu Demokratie und Egalität bemerkenswert. Weniger überraschend ist die Abwertung des Judentums, die für ihn offenbar die Würdigung des Islam erst ermöglicht. Wenn die allgemeine Bruderschaft die Seele des Islam ist, dann stellt der „nur seinem Volke Israel“ gnädige Jahwe offenbar die Seele des Judentums dar. Originell ist diese diffamierende Ansicht nicht; in der christlichen Theologie der Zeit war sie ein Gemeinplatz. (Seltsam aber, dass Sebottendorf nicht sagt, was seiner Ansicht nach die Seele des Christentums ausmacht.)

Aber Religionen sind für Sebottendorf nicht nur einzigartig, sondern es gibt auch ein Element, das sie alle verbindet:
Doch das sind schließlich noch Äußerlichkeiten, die Geheimreligion jeder der drei Religionen weist darauf hin, dass es über der Volksreligion etwas Anderes allen Gemeinsames gibt; die Geheimreligion der Muselmanen finden wir im Derwischtum, im Sufismus. In meinem Buch über die türkische Freimaurerei habe ich das System der Derwischorden herausgestellt, ich habe dort den Vergleich zwischen dieser und dem alten Rosenkreuzertum gezogen, man wird sehen, dass die beiden Religionen, der Islam und das Christentum, ein Gemeinsames haben und dieses Gemeinsame finden wir auch in der mosaischen Religion. Wir können aber noch weiter greifen. Alle existierenden Religionen der Welt haben eine geheime Überlieferung, aus der die Volksreligion immer wieder neue Nahrung zieht und diese Überlieferung ist das Bewusstsein der Einheit mit GOTT. Der unsterbliche Teil in uns ist GOTT selbst, wir müssen zu ihm zurückstreben und wenn wir ganz in IHM, in GOTT aufgegangen sind, dann haben wir unser Ziel erreicht.
Alle Religionen haben also einen gemeinsamen mystischen Kern in der Einswerdung mit Gott: im Islam ist dieser Kern im Sufismus vorhanden, im Christentum im Rosenkreuzertum, im Judentum (wie sich schließen lässt) in der Kabbala. Zur Weitergabe dieser Geheimreligion in den verschiedenen Volksreligionen, so impliziert Sebottendorf, ist ein institutioneller Rahmen nötig, ein System von Geheimgesellschaften. Deshalb hat jede Religion ihre eigene „Freimaurerei“. Was Sebottendorf hier sagt, unterscheidet sich kaum von dem, was Personen wie Idries Shah später vertraten.

Für Sebottendorf teilten sich die Eingeweihten der verschiedenen Geheimtraditionen durch besondere Zeichen mit. So schreibt er in seinem maßgeblichen Werk über Die geheimen Übungen der türkischen Freimaurer (1924):
Der Prophet hat nun eine sehr weise Einrichtung geschaffen, um den Weg zur Erkenntnis allen zu öffnen, die ihn wahrhaft suchen, er hat im Koran nach einem gewissen System bestimmte Merkzeichen gegeben, die diesen Weg zur Erkenntnis weisen; die dem Erkennenden das Gesetz der Schöpfung im Innern offenbar machen mussten.
Mit diesen Merkzeichen meint Sebottendorf natürlich nichts anderes als die Geheimnisvollen Buchstaben, die zu Beginn einiger Suren stehen. Ich halte es für gut möglich, dass Sebottendorf in den Runen, die er auf der Annonce des Germanenordens erblickte, vergleichbare Merkzeichen zu erkennen glaubte. Dem Germanenorden, bzw. dem ariosophischen Logenwesen überhaupt, will ich mich nun zuwenden.

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